Scharf zog Bard die Zügel an. Das Pferd schnaubte und blieb stehen. Kyrddis und Idriel standen am Himmel und warfen ihr blaugrünes Licht in die Nacht. Der matte Schein eines Feuers drang schwach durch das Gebüsch, das sich in der Dunkelheit schemenhaft vor Bard abzeichnete.
Der Späher hatte eine Karawane gemeldet, die aus mehreren Gespannen bestand und von Bewaffneten zu Fuß geschützt wurde. Bard mac Fianna fühlte sich an sein erstes Kommando erinnert, vor fast einem Jahrzehnt, unter dem König Ardin von Asturien. Damals war er auch gegen eine Karawane gezogen, eine Karawane, die Haftfeuer transportierte.
Haftfeuer – eine Ausgeburt der Hölle Zandrus. Eine Substanz, die nicht wie Erze aus dem Boden gefördert, nicht wie Säfte aus Pflanzen und Bäumen gewonnen, sondern von den Türmen hergestellt wurde. Haftfeuer brannte, einmal angezündet, sich solange durch Holz, Kleidung, Fleisch und Knochen, bis es keine Nahrung mehr fand.
Mit der Karawane ritt ein junger Laranzu, wie der Späher berichtet hatte, was Bards Verdacht noch weiter schürte. Ein harmloser Troß würde nicht durch einen Zauberer begleitet werden, dessen Aufgabe es nur sein konnte, Attacken auf die Karawane zu erschweren, mögliche Angreifer ohne die Hilfe der Bewaffneten zurückzuwerfen. Auch das erinnerte Bard an seinen ersten Einsatz als Truppführer, auf dem allerdings nicht seine Gegner, sondern er selbst von Leroni begleitet worden war – von dem alten Gareth MacAran, seiner Tochter Melora und Mirelle Lindir. Doch das war unwiederbringliche Vergangenheit.
Seit zwei Jahren befand sich Bard in den Hellers, in den Diensten des kleinen Königreiches Scaravel, das in ständigem Kampf gegen die Räuberbanden von jenseits Alardyns stand. Für sie war es, wenn sie wollten, kein Problem, sich über Mittelsmänner von den Türmen Haftfeuer zu beschaffen.
Bard berührte den Mann an seiner Schwertseite, der nur als Silhouette erkennbar war, leicht mit der Hand. Bard stieg vom Pferd, band die Zügel an einen Ast und glitt lautlos in die Büsche. Kurz vor dem Wa1drand verharrte er, bog einige Zweige zur Seite und ließ seinen Blick über das Tal schweifen, das im blaugrünen Mond1icht vor ihnen lag.
Die Wagen standen aufgereiht in der Talsohle. Die Pferde waren nicht zu entdecken. Sie mußten hinter den Wagen stehen, auf die das Feuer ein eigenwilliges Spiel aus Licht und Schatten warf. Nur ein Mann saß noch vor dem Feuer, den Kopf weit nach vorne geneigt. Die übrigen Männer hatten sich auf den Erdboden gelegt und in ihre Decken gehüllt.
Bard biß sich auf die Lippen. Ihre Gegner waren sehr leichtsinnig. Ein großes Feuer, das nicht nur wegen der Wagenladungen gefährlich war, sondern auch weit hinaus in das Tal leuchtete, und ein Wächter, der schlief. Oder dies war nichts anderes als eine Falle, ein Hinterhalt.
Unter seinen Männern, die ihm nahezu lautlos gefolgt waren, entstand Unruhe. Bard konnte die geflüsterten Worte nicht verstehen. Er stieß dem Mann neben ihm den Ellenbogen zwischen die Rippen, der seine Kameraden mit einem bestimmten, gezischten Befehl zum Schweigen brachte. Bard konnte die Nervosität seiner Männer verstehen, denn sie speiste sich nicht nur aus der Furcht vor einem Hinterhalt.
Leroni galten als unnahbar. Angst und Widerwi11en hatten sich in den Gesichtern seiner Männer abgezeichnet, als er ihnen kurz vor Sonnenuntergang seinen Plan erläuterte. Doch sie waren ihm gefolgt, ihm, den Wolf, wie er von denen, die ihn bezahlten, und auch von denen, die er bekämpfte, gleichsam furcht- und respektvoll genannt wurde.
Bard trat vor den Waldrand und zog das Schwert. Gebückt schlich er auf das Lager zu. Hinter sich vernahm er leise Schritte im kniehohen Gras, zunächst wenige nur. Doch dann wurde das Geräusch zu einem leisen Rauschen und Rascheln, das ihm folgte, aber auch zu den Seiten ausschwenkte.
Die Gestalt am Feuer rührte sich nicht. Bard vernahm tiefe, laute Atemzüge. Er trat hinter den Mann und stieß es ihm das Schwert zwischen die Rippen. Lautlos sackte der Mann in sich zusammen.
Neben Bard auf dem Boden schlug der Mann mit einer schnellen Bewegung seine Decke zurück und richtete sich halb auf. Im Schein des Feuers glänzte sein hellroter Haarschopf. Der Laranzu griff sich an den Ha1s, zog eine Kette hervor, an der ein kleiner, blaßblauer Stein baumelte.
Bard gestattete sich keinen Moment der Überraschung und des Überlegens darüber, wie der Laranzu den fast lautlosen Angriff bemerkt hatte. Er war ein Zauberer! Bard riß das Schwert zurück, schwang es herum und trieb es in den Körper des Laranzu. Die Hand des Zauberers verkrampfte sich um den Sternenstein. Mit einem leisen, erstickten Aufschrei fiel er zurück.
Bard sich um. Der Kampf war bereits vorbei, die Männer der Karawane waren tot. Er würgte, biß die Zähne zusammen, schluckte mehrmals, bis das Gefühl nachließ. Bard verabscheute, auch wenn ihm als Söldner Menschen1eben nicht viel bedeuteten, diese Art von Krieg. Der Laranzu hatte ihm, als er ihn tötete, in die Augen gesehen.
Er steckte das Schwert in die Scheide zurück und verschloß den Mantel über dem im Schein des Feuers glitzernden Kettenhemd. Seine Männer hatten sich ihm gegenüber in einem Ha1bkreis um das Feuer aufgestellt. „Schafft sie beiseite,“ befahl er mit gepreßter Stimme und wies mit der Hand auf die Leichen am Boden.
Einer der Männer trat wortlos neben ihn, bückte sich, packte den Laranzu an den Füßen und zerrte ihn mit sich. Bard wandte sich ab, ging auf den nächsten Wagen zu und schwang sich hinauf. Um seine Fußknöchel spürte er einen sanften Druck. Er griff hinunter und strich an seinen Unterschenkeln entlang, suchte das abgestorbene Geäst, das sich an seinen Stiefeln verfangen haben mußte. Doch seine Hände griffen ins Leere. Was ihn berührt hatte, mußte schon zu Boden gefallen und in der Dunkelheit verschwunden sein.
Bard löste die Verschnürungen und schlug die Plane zurück, unter der sich eine Reihe von Ballen verborgen hatten. Er hielt für einen Moment inne. Dann zog er sein Messer (nein, rief er sich in das Gedächtnis zurück, es war nicht seine Waffe, sondern die eines getöteten Feindes, ein Trockenstädter-Dolch, der ihn zu dem gemacht hatte, was er war) und schnitt tief in den nächsten Ballen hinein.
Mit der anderen Hand griff er in den Ballen, faßte zu, spürte Leder in der Hand und zog es heraus. Gegerbte Felle. Bard griff nach einem anderen Ballen, stieß das Messer hinein und faßte mit der Hand nach. Seine Finger fühlten weichen, straff gespannten Stoff, der um ein rundes Stück Holz gewickelt war. Er griff tiefer hinein, doch ertastete nichts anderes als Tuchrollen.
Bard sprang auf den Boden, lief zu dem nächsten Wagen und riß die Plane zurück. Im matten Schein des Feuers konnte er Fässer erkennen. Er zog seinen Dolch, drehte die Hand um, holte aus und ließ seine Faust auf das nächste Faß niederfahren.
Das Holz gab splitternd nach. Bard spürte einen kurzen, stechenden Schmerz in seiner Hand. Haftfeuer stank sehr, doch Bard roch nichts.
Er riß das Faß hoch, bemerkte auch an den Gewicht, das es kein Haftfeuer enthalten konnte, und schleuderte es mit der Öffnung voran in die Richtung des Feuers. Dumpf schlug es auf dem Boden auf, ro11te knapp am Feuer vorbei und verstreute hölzerne Krüge, Becher, Teller und Bestecke. Bard verharrte regungslos
Den dritten und letzten Wagen hatte inzwischen einer seiner Männer bestiegen. Mit einem überraschten Schrei fuhr er auf und hielt ein Bündel Trockenfleisch in der einen und einen Schlauch in der anderen Hand in die Höhe. Das Fleisch warf er achtlos beiseite, öffnete den Schlauch und ließ sich den Inhalt in seinen Mund und über sein bärtiges Kinn rinnen. Bard erkannte den Geruch. Es war der schwere, säuerliche Wein, der an den wenigen sonnenbeschienenen Hängen der Kilgardberge wuchs.
Benommen rutschte er vom Wagen und stolperte in die Dunkelheit hinein. Das Feuer befand sich jenseits der Wagen, nur die Monde warfen ihr Licht auf den Boden. Bard meinte, direkt in das grelle Antlitz Mormollars zu starren, auch wenn zu dieser Zeit Jahreszeit gar nicht am Himmel stand. Bard schüttelte den Kopf.
Das Geschrei und das Grölen seiner Männer drang dumpf an seine Ohren. Der Wein würde sie daran hindern, lange über das nachzudenken, was sie gefunden hatten.
Bard zitterte. Seine Handflächen wurden feucht. Er hockte sich auf den Boden, umfaßte die Knie mit den Armen und barg seinen Kopf darauf. Auf dieser Seite der Karawane sahen ihn seiner Männer nicht. Vor ihren Augen hätte er eine solche Schwäche nicht gezeigt.
Bard spürte einen Druck in seinem Rücken, nicht wie die scharfe Spitze eines Schwertes, sondern wie die Unebenheiten des Bodens, Steine oder Baumwurzeln, die die Oberfläche durchbrachen und an Schlaf in einem Feldlager nicht denken ließen. Nervös fuhr er herum, umklammerte den Griff seines Schwertes und sprang auf.
Hinter den Wagen flackerte das Feuer. Bard stieg den Hang hinauf und wandte sich um. Er konnte erkennen, wie die Männer, die er erblickte, die Weinschläuche aus dem Schatten der Wagen erhielten, an die Lippen setzten, herumgehen ließen, wieder tranken und an die Männer in den Wagen zurückgaben. Sie grölten, machten derbe Witze und stritten sich bereits um die Beute, obwohl Bard als ihr Führer das Recht des ersten Zugriffs hatte.
Bard nahm mit einer Mischung aus aufsteigender kalter Wut und Verständnis wahr, daß sie keine Posten aufgestellt hatten. Es war zwar nur ein Kampf unter vielen gewesen, aber sie hatten Haftfeuer zu finden erwartet, doch dann Wein und Proviant erbeutet.
Der Proviant und der Wein, die Stoffe und das Holzgeschirr waren, wie Bard langsam klar wurde, für einen Turm bestimmt gewesen. Nicht für einen der großen Türme wie Arilinn und Neskaya, denn sie lagen nicht in den Hellers, aber Bard erinnerte sich, daß Tramontana, ein kleiner, abgelegener Turm, etwa zehn Tagesreisen von Scaravel entfernt war. Der Zauberer mußte die Karawane in Thendara zusammengestellt haben.
Gefangene hätten sie nun töten müssen. Niemand greift die Türme ungestraft an.
Bard schwindelte. Helle Schleier legten sich vor seine Augen, löschten seine Welt aus, das in der Dunkelheit liegenden Bergtal, das nur durch Kyrddis und Idriel und durch das Feuer bei den Wagen erhellt wurde, und offenbarte ihm eine andere. Ein grauer, aufragender Turm, schwankend und mit verschwimmenden Konturen, davor einige flache Gebäude, die sich an den Turm drückten, dahinter ein bewaldetes Gebirgsmassiv. Der Turm kam näher, verschwand und machte einem unwirklichen, bläulich schimmernden Raum Platz, dessen Wände aus Glas zu bestehen schienen. Fünf oder sechs Menschen, Männer und Frauen, alle mit rotem Haar, schauten auf Bard hinab.
Er riß sich von den Bildern los, legte den Arm über die Augen, tat ein paar Schritte und brach in die Knie. Der Lärm seiner Männer war verstummt.
Gesichter zogen vor ihm vorbei. Nicht die von den Menschen in dem blauen Raum. Kindergesichter, das Antlitz einer jungen Frau, das langsam alterte, dann wieder die Kindergesichter, ausgeprägter, reifer und schärfer werdend, bis es keine Kindergesichter mehr waren, wieder das Gesicht einer jungen Frau, das aber nicht älter wurde und das Bard als eines der Menschen aus dem Turm erkannte. Ein altes, strenges Antlitz eines Mannes, gekrönt von vollem, feuerrotem Haar. Wut spiegelte sich in den Zügen wider. Dann Gesichter, die die seiner Leute hätten sein können, Bauern, Handwerker, Söldner oder Händler vielleicht, immer schneller neue, andere, unbekannte Gesichter, die in einem hellweißen, rasenden Fluß mündeten.
Bard stöhnte auf. Die Schlieren gaben den Blick frei auf eine tanzende, große, ineinander verschachtelte Stadt, die weggewischt wurde von einem Blick auf dicht bewaldete, aufragende Gebirgszüge, die einem großen Haus, offen und großzügig angelegt, der Residenz einer herrschaftlichen Familie, wichen.
Bard stemmte sich hoch und riß die Augen auf. Abseits der Wagen warf ein zweites Feuer seinen Schein. Bläulich schimmernd dehnte es sich aus und hüllte die Umgebung in sein unwirkliches Licht. Er konnte mit verkniffenen, tränenden Augen die reglosen Körper in seinem Mittelpunkt ausmachen: die Leichen der Karawanenbegleiter.
Bard schloß die Augen, öffnete sie wieder – und befand sich inmitten des hellblauen, leuchtenden Feuers, das dennoch kalt war. Er lag mit dem Rücken auf dem Boden, umklammerte mit der einen Hand einen Gegenstand an seinem Hals, preßte die andere auf seine Brust, spürte unter ihr eine warme, klebrige Flüssigkeit. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er zusammengekrümmte Gestalten neben ihm wahr.
Er fühlte sich schwach. Der pochende Schmerz in seiner Brust ließ nach. Sein Herz schlug langsamer.
Die Umgebung verschwamm. Das Haus stand wieder vor seinen Augen. Er bewegte sich darauf zu, durchquerte das Portal, fand sich in einem hohen, langgestreckten, mit Wandteppichen geschmückten und mit langen Tischreihen bestückten Raum wieder. An der Stirnseite saß auf einem Podest und in einem prachtvoll geschnitzten Stuhl der alte, strenge, rothaarige Mann.
Dann schob sich der Turm in den Hintergrund, drohte mit dem Mann zu verschmelzen und den Raum zu verdrängen, den Raum, der Bard an einen ähnlichen, wenn auch kleineren und nicht dermaßen prunkvoll ausgestatteten in der Burg von Asturien erinnerte. Asturien, wovon er verbannt worden war und wohin er zurückkehren wollte. Haß drängte sich mit Macht in sein Bewußtsein und katapultierte die Bilder davon.
Bard spürte ein Stechen im Gesicht und schlug die Augen auf. Er lag im Gras des Hanges, atmete mehrmals tief durch, zog die Beine an, stand auf und tat einige unsichere, wankende Schritte.
Das blaue Leuchten im Tal war erloschen. Der Schein des Feuers drang nur noch schwach über die Wagen. Es mußte niedergebrannt sein. Bard ging den Hang hinab und trat zwischen den Wagen hindurch vor das Feuer.
Seine Männer saßen eng an die Bordwände und gegen die Räder gedrückt oder lagen unter den Wagen. Bard zählte sie rasch durch: Niemand war geflohen, stellte er befriedigt fest. Um das Feuer herum lagen weggeworfene Weinsch1äuche, vor denen sich säuerlich riechende Lachen gebildet hatten. Bard ging zu dem ersten Wagen, griff unter die Plane, holte einen Schlauch hervor, öffnete ihn und nahm einen tiefen Schluck.
„Es ist vorbei“ sagte er mit ruhiger, leiser Stimme und hob den Schlauch. Auch wenn er dem Tod vielleicht nur knapp entgangen war, hatte der Kampf doch auch etwa Gutes für ihn: Nach dieser Nacht würden ihm seine Männer loyaler und aufopferungsvoller folgen als jemals zuvor.