„Sie
steht hinter dir,“ sagte Bernd, der mir gegenüber saß.
Um seine Lippen zuckte es. Er fuhr sich mit der Hand durch den dichten,
dunkelbraunen Vollbart und rückte seine Brille zurecht. In seinen
Augen stand ein belustigtes Glitzern.
Ich drehte mich um und stützte mich auf der Rücklehne des
bequemen, tiefbraunen Ledersessels ab. Die Standuhr war es also, die
mir mein Cousin als seine neueste Erwerbung vorstellen wollte. Mir war
sie schon aufgefallen, als ich seine Wohnung betrat, ich hatte aber
nicht angenommen, daß sie es war, auf die sich Bernds Stolz seit
einigen Tagen konzentrierte.
Es war eine schlichte Standuhr, eigentlich nicht viel mehr als ein schmaler,
fast bis zur Zimmerdecke reichender Bretterkasten, der den groben Mechanismus
(unwillkürlich mußte ich an die flache Quarzuhr an meinem
Handgelenk denken) einer Uhr beherbergte. Das Äußere war
schmucklos, ohne Verzierungen wie Schnitzereien und eingeprägte
Muster, der Lack verblichen und an manchen Stellen abgeblättert,
an denen sich nun stumpfes, vertrocknetes Holz zeigte. Das gelbliche
Zifferblatt, über das langsam aber stetig die beiden Zeiger krochen,
verbarg sich hinter verschmutztem, hier und da gesprungenem Glas. Hinter
der Glastür in der unteren Hälfte der Uhr, die in einem ähnlichen
Zustand war, ließen sich das rhythmisch schwingende Pendel und
die dem Boden entgegenstrebenden Gewichte erkennen.
Ich wandte mich wieder meinem Gastgeber zu. „Und?“ fragte
ich.
Bernd lächelte. Ich war irritiert. Seine Vorliebe für Obskures,
Mythisches und Kultisches war mir inzwischen zur Genüge bekannt,
An der Wand linkerhand hingen Nachbildungen von Schrumpfköpfen
und Blasrohren der südafrikanischen Jivaro-Indianer (die in den
Ausläufern der Kordilleren leben, wie Bernd mir einmal erklärte)
neben denen von leicht gebogenen japanischen Samuraischwertern, von
Langspeeren der Massai-Krieger aus Ostafrika neben Fotos von Schnitzereien
der australischen Ureinwohner, in denen sich, so Bernd, deutlich deren
Hang zu Totemismus und Zauberglaube abzeichnete. In der Ecke stand gar
die stark verkleinerte Nachahmung eines südostasiatischen Schreins,
der mit den verschwungenen und gebogenen Verzierungen immerhin hübsch
anzusehen war. Daneben hatte Bernd ein paar Vitrinen plaziert, die Modelle
der Pyramiden von Gizeh, einer Pyramide der Azteken, die im Gegensatz
zu den ägyptischen nicht spitz zulief, sondern abgeplattet war,
und von Stonehenge enthielten, direkt unter einem Bücherregal,
in dem neben der ILLIMINATUS-Trilogie von Robert Shea und Robert A.
Wilson Werke von Charles Berlitz, Carlos Castaneda, Erich von Däniken
und anderer, ähnlich einschlägig bekannter Autoren standen.
Bernd ging es keineswegs um die ernsthafte Beschäftigung mit fremden
Kulturen. Er liebte und glaubte an das Irrationale, und - es war ihm
egal, wo er es fand oder zu finden glaubte. Ich hielt seine Freizeitbeschäftigung
für ausgemachten Unsinn. Es sprach schon allein Bände, auf
Geschäftemacher wie Berlitz oder von Däniken hereinzufallen.
Doch die Standuhr wollte nicht in diesen Rahmen passen.
„Es ist eine besondere Uhr,“ meinte Bernd.
Ich antwortete nicht. Gehässig erinnerte ich mich daran, daß
in der letzten keine Trödelmärkte stattgefunden hatten. Auch
die letzte Sperrmüllabfuhr lag mehrere Monate zurück. Diese
Gedanken sprach ich jedoch nicht aus. Bernd war, was sein Hobby betraf,
sehr empfindlich, obwohl. es mich sehr interessierte, wer Bernds Gutmütigkeit
ausgenutzt hatte, um ihm eine alte, verwahrloste Standuhr aufzuschwatzen,
„Es ist die Uhr,“ fuhr Bernd fort, „die für den
Ablauf der Zeit sorgt. Ohne sie würde die Zeit überhaupt nicht
existieren. Nur weil es die Uhr gibt, gibt es die Zeit. Ihre Unruhe
bewegt richt nur die Zeiger, sondern treibt auch die Zeit voran.“
Ich stöhnte innerlich. Kein Wunder, daß Bernd die Uhr gekauft
hatte, kaufen mußte, als ihm der Verkäufer diese hübsche
Geschichte erzählte.
„Generationen von Menschen haben darüber gerätselt,“
dozierte Bernd, „was Zeit eigentlich sei, über ihre Natur,
ihre Entstehung. Auf diese Frauen wird es vermutlich auch nie eine Antwort
geben. Die Uhr aber ist der Motor der Zeit.“ Bernds Gesicht leuchtete
vor Stolz, seine Augen glänzten feucht und eine Freudenträne
rann die linke Wange in den Vollbart hinab.
Ich begann mich zu ärgern, daß ich einen – diesen!
– Nachmittag geopfert hatte, mit dem ich etwas besseres und sinnvolleres
hätte anfangen können, als der Unsinn zuzuhören, den
Bernd mir erzählte. Heute war es besonders schlimm. Bisher hatte
ich seine Ambitionen für nicht mehr als unsinnige, aber harnlose
Schwärmerei gehalten, jetzt aber schien er den Kontakt zum Boden
der Realität endgültig verloren zu haben. Dies war mein letzter
Besuch bei Bernd, das schwor ich mir. Wenn er an einen solchen Unsinn
glaubte, geschah ihr seine Vereinsamung – ich war offenbar der
einzige, zu dem er noch nähere zwischenmenschliche Kontakte unterhielt
– nur recht.
„Interessent,“ erwiderte ich und grinste kalt. „Vielleicht
ist dir bekannt, daß es Räderuhren erst seit dem dreizehnten
Jahrhundert gibt. Davor gab es also wegen der fehlender Standuhr keine
Zeit – oder wie? Sag' schon – wer hat dir das Ding ungedreht?'“
Bernd hatte sich in seinen Sessel zurückgelehnt und lächelte.
Er schien sich über meinen Unglauben zu amüsieren.
Wir schwiegen. Die Standuhr begann zu schlagen. Fünfmal. Es wer
ein heller, unsauberer Ton, als würden dünne Metalistreifen
gegeneinander geschlagen. Ich blickte auf meine Uhr, die die Ziffern
17:00 zeigte.
Ich stand auf, ging um den Sessel herum und trat zu der Standuhr. Ich
öffnete die Glastür und richtete meinen Blick auf Bernd, der
mich erstaunt ansah. Erschrecken und Furcht durchzog sein Gesicht, ais
er erkannte, was ich vorhatte. Ich grinste ihn nochmals an und umfaßte
das Pendel und die Gewichte mit der Hand.
Der Mechanismus setzte nicht sofort aus. Das Pendel ruckte noch nach
links und nach rechts. Im Fenster hinter Bernd war es, wie mir schien,
schlagartig schwarz geworden. Die hochgewachsene und dichtbelaubte Eiche,
die in den Sommermonaten das Sonnenlicht aus Bernds Wohnung fernhielt,
hatte einer tiefen, undurchdringlichen Dunkelheit Platz gemacht, die
langsam in das Zimmer glitt, Über Bernds geliebte Bücher,
Modelle und Nachahmungen, über die Möbel. flutete, schließlich
auch Bernd, der sich erheben wollte, aber wie festgefroren in seiner
Stellung verharrte, verschlang und sich mir innerhalb von Bruchteilen
einer Sekunde näherte. Das Pendel in meiner Hand tat noch eine
Bewegung –