Der
Laserschneider durchtrennte mühelos den roten und hüfthohen
Gesteinsbrocken. Pierré Pronzini hatte den Stein ohne besondere
Überlegung ausgewählt, denn bis zum Horizont erstreckte sich
eine dunkelrote Wüste aus Geröll und Steinen, die sich kaum
voneinander unterschieden, nur unterbrochen durch Meteroitenkrater.
Er trat einen Schritt zurück, als die beiden Hälften des Steins
in der geringen Schwerkraft von Krocker IV langsam zu den Seiten wegkippten.
Die Gesteinsbrocken hatten noch nicht den Boden erreicht, als aus der
Mitte der Schnittkanten kleine, weiße Sterne aufstoben, einen
Augenblick verharrten, bevor sie sich konfus zu umkreisen begannen.
Weder Pronzini noch die übrigen drei Mitglieder seines Teams wußten,
warum das Vermessungsraumschiff von NEUE WELTEN, als es das Sonnensystem
von knapp zwei Jahren in der Nähe von Ceelus, kurz vor dem Kandoranischen
Sektor entdeckte, es ausgerechnet Krocker getauft hatte. Nach den Gerüchten,
die Pronzini und seine Teamkameraden auf dem Transporter VALLEY FORGE
gehört hatten, war Krocker der Spitzname der Partnerin des Captains
des Vermessungsschiffs gewesen, doch das hatte ihnen selbst als schiffsüblicher
Tratsch als absurd erschienen. Physisch war Krocker ein sieben Planetensystem
mit einer gelben, unauffälligen Sonne des G-Typs. Die zwei inneren
Planeten waren von Meteroiteneinschlägen zernarbt und von der Sonnenstrahlung
verbrannt, die drei äußeren beringte Gasriesen. Nur Krocker
III und IV wiesen dünne Atmosphären auf, die überwiegend
aus Kohlendioxyd bestanden.
Pronzini überlegte rasch. Was er vor sich hatte, konnte er als
chemische Reaktion von im Stein eingeschlossenen Mineralien und dem
Kohlendioxyd oder anderen Bestandteilen der Atmosphäre des Planeten
deuten. Auffallend war aber, daß die Reaktion, wenn sie denn eine
war, nicht endete. Die Sterne vor ihm setzten ihren Tanz fort, bildeten
kleine Wolken, lösten sich voneinander, um sich erneut zu umkreisen
und wieder zu vereinen.
Er fühlte sich überfordert. Pronzini war Bergbauingenieur,
kein Biologe. Er war mit den übrigen Teammitgliedern von NEUE WELTEN
in das Krocker-System entsandt worden, um den dritten und vierten Planeten
auf den Abbau von Mineralien und Erzen zu untersuchen. Die VALLEY FORGE
hatte sie vor drei Tagen abgesetzt, sie hatten die Wohn- und Arbeitscontainer
aufgebaut, in Betrieb genommen und bislang erst Untersuchungen an der
Oberfläche vorgenommen. Weder das Team noch ihr Arbeitgeber hatte
damit gerechnet, auf Krocker IV etwas vorzufinden, das sich als Lebensform
bezeichnen ließe.
Pronzini war inzwischen sicher, eine Lebensform vor sich zu haben. Eine
chemische Reaktion wäre von kürzerer Dauer gewesen. Er schob
die Blendschutz des Helms seines Raumanzuges zurück, um die Lebensformen
besser betrachten zu können. Sie ähnelten nicht Insekten,
sondern sein erster Eindruck bestätigte sich: winzige Sterne, kaum
mehr als Pünktchen, deren Korona intensiver zu leuchten schien
als das Zentrum. Sie bildeten eine Säule, die sich nach vorne neigte
und auf den Laserschneider zuschoß, den Pronzini noch nicht deaktiviert
und der eine Furche in den Boden gebrannt hatte.
Die Sterne umschwirrten den Strahl. Die, die ihn berührten, vergingen
in kleinen, schwarzen Qualmwölkchen, die von ihren überlebenden
Artgenossen verwirbelt wurden, die es vermieden, dem Laserstrahl zu
nahe zu kommen. Pronzini ging einen Schritt rückwärts und
brachte dabei den Laserschneider von einer schrägen in eine annähernd
senkrechte Position.
Der Strahl drang in den rechten Fuß seines Raumanzuges ein und
zerschnitt das Material. Pronzini war außerstande, seine Bewegung
zu stoppen, und so wanderte des Laserstrahl über das Fußgelenk
in das Schienenbein. Er warf den Laserschneider unabgeschaltet zur Seite.
Er spürte keinen Schmerz, fühlte sich aber seiner Umgebung
entrückt.
Aus dem Schnitt in Pronzinis Raumanzug sprühte ein weiß-rötliches
Gasgemisch hervor, Sauerstoff und Blut. Der Helm wurde von einem Brausen
erfüllt, als die Anzugsautomatik den Innendruck erhöhte, um
den Sauerstoffverlust auszugleichen, das den akustischen Alarm kaum
noch vernehmbar werden ließ. Im Helmdisplay blinkten mehrere Dioden,
hektisch und rot.
Die Lebensformen waren dem weggeworfenen Laserschneider nicht gefolgt.
Sie formierten sich nochmals zu einer Säule und drangen in den
beschädigten Schutzanzug ein. Pronzini sah erstaunt zu. Eine eisige
Kälte begann sich in seinem rechten Bein auszubreiten, stieg bis
zur Hüfte hoch, erfaßte das rechte Bein und kletterte schnell
den Oberkörper hoch.
Pronzinis verletzter Fuß verlor den Halt. Er drehte sich nach
rechts und neigte sich nach vorn. Er sah noch, wie Sara Evans, die Geologin
des Teams, in ihrem Schutzanzug ungelenk und mit großen Schritten
auf ihn zueilte. Er wurde bewußtlos, bevor er auf dem steinigen
Boden aufschlug.
*
Der Notruf erreichte die PHÖNIX nur zwei Hyperraumflugstunden
entfernt.
Der Rettungskreuzer, das baugleiche Schwesterschiff der IKARUS, hatte
den Normalraum noch nicht verlassen, um seiner Besatzung die Gelegenheit
zu einer längeren Pause zu geben. Die Hilfestellung, die die PHÖNIX
einem Frachter der Pronth-Hegemonie geleistet hatte, auf dem ein Schaden
im Lebenserhaltungssystem zu einem Austritt von giftigen Gasen und damit
zu Verätzungen in den Atemwegen der Besatzung geführt hatte,
lag bereits zwölf Stunden zurück.
Commander Dane Hellerman informierte Dr. Bernotat Lasse Malmström,
den Mediziner, und die Wissenschaftsoffizierin Lieutenant Passa Bell,
die sich in ihren Kabinen aufhielten, über Interkom. „Es
handelt sich nicht um eine Routinemission,“ führte er aus.
Auf der rechte Wange seines vernarbten Gesichtes zuckte ein Muskel.
„Eine Mitglied des Explorationteams von NEUE WELTEN ist aufgrund
eines Unfalles von einer bislang unbekannten Lebensform kontaminiert
worden.“
„Ich habe unsere Einsätze noch nie für Routinemissionen
gehalten...“ murmelte Templeton Ash, der Pilot des Rettungskreuzers,
leise. Hellerman warf ihm einen scharfen Blick zu, verzichtete aber
auf eine Antwort.
„Ist das Explorationteam mit einer Quarantänestation ausgestattet?“
fragte Dr. Lasse Malmström besorgt. Das Gesicht auf dem Monitor
der schiffsinternen Kommunikation wies noch dunkle Ringe unter den Augen
auf. Offensichtlich hatten dem Arzt die vergangenen Stunden noch nicht
genügt, um sich zu regenerieren.
Hellerman schüttelte den Kopf. „Das Team besteht nur aus
vier Personen, denen das entsprechende Equipment nicht zur Verfügung
steht. Nach der ersten Untersuchung war NEUE WELTEN davon ausgegangen,
daß es sich bei Krocker IV um eine biologisch tote Welt handelt.
Das Team hat in einem der Wohncontainer eine provisorische Quarantänestation
eingerichtet. Außerdem trugen sie durchweg Raumanzüge, als
der Unfall geschah, und haben diese nicht abgelegt.“
„Deson Merc soll unser Quarantänezelt vorbereiten,“
erwiderte der Arzt. „Wir werden es nach der Landung mit den Container
des Teams verbinden. Außerdem werde ich eine Liste mit medizinischen
Geräten, Medikamenten und anderen Ausrüstungsgegenständen
zusammenstellen, die er in das Shuttle verladen soll. Ich halte es nicht
für sinnvoll, den Kontaminierten an Bord der PHÖNIX zu bringen,
solange wir nicht wissen, mit welcher Art von Lebensform wir es zu tun
haben.“
Der Chefingenieur der PHÖNIX, der schweigsam vor seiner Konsole
saß, nickte nur. Templeton Ash bezweifelte, daß diese Geste
zu dem Kommunikationsrepertoire eines Taletheers gehörte. Der Lieutenant
nahm an, das Deson Merc damit die Verständigung zwischen ihm und
den Besatzungsmitgliedern verbessern wollte. Nicht kopieren konnte der
Talatheer den Blickkontakt, der zwischen und innerhalb humanoider Spezies
üblich war. Er trug eine Schutzbrille, da das Spektrum der Bordbeleuchtung
mit dem seiner Heimatwelt nicht kompatibel war. Der Ingenieur war über
zwei Meter groß und seine Haut glänzte silbrig.
Aber Deson Merc war für Templeton Ash nicht das rätselhafteste
Mitglied der PHÖNIX-Besatzung.
„Warum kümmert sich NEUE WELTEN nicht selbst um seine Angestellten?“
warf der ehemalige Pilot des Corpskreuzers LIEBENFELS provokativ ein.
Hellerman seufzte. „Das nächste Raumschiff des Konzerns,
das mit einem eigenen Hyperantrieb ausgestattet ist, befindet sich knapp
zwei Hyperraumflugtage entfernt. Außerdem steht das Raumcorps
in der Schuld von NEUE WELTEN – nicht besonders tief sicherlich,
aber tief genug, um uns für die Lieferung der PHÖNIX durch
die eine oder die andere Gefälligkeit zu revanchieren. Natürlich
scheuen sie auch das Risiko, als erste vor Ort zu sein. Aber glauben
sie mir, Ash, auch das Raumcorps ist sehr an der Erforschung neuer Lebensformen
interessiert.“
Der Captain schwieg einen Moment. „Sie werden das Shuttle mit
Dr. Lasse Malmström und Lieutenant Passa Bell und ihrer Ausrüstung
auf Krocker IV landen, Ash, sobald wir den Orbit in des Planeten erreicht
haben. Und nun setzen sie einen Kurs und bringen sie die PHÖNIX
in den Hyperraum.“
Das ist genau das richtige für einen jungen und abenteuerlustigen
Piloten, klang die telephatische Stimme von Ekasatria, der Präsenz
an Bord der PHÖNIX, spöttisch in Ashs Gedanken auf. Er zuckte
zusammen. An die unvermittelte telephatische Kommunikation hatte er
sich noch nicht gewöhnt, auch wenn er bereits geraume Zeit mit
dem körperlosen Wesen an Bord des Rettungskreuzer zusammenarbeitete
und inzwischen auch sicher war, daß es seine Privatsphäre
akzeptierte und nicht in seinen Gedanken und Erinnerungen herumstöberte
– wenn sie dazu überhaupt in der Lage war.
Die PHÖNIX nahm Geschwindigkeit auf und sprang in den Hyperraum.
*
Die Augen Pronzinis waren geschlossen, rollten unter
den Lidern aber unkontrolliert hin und her. Diese Bewegung übertrugen
sich auf seinen Kopf, doch waren sie zu schwach, auch die Trägheit
des Raumhelms zu überwinden.
Pronzini lag auf dem Untersuchungstisch, der in der Mitte des Quarantänezeltes
aufgebaut worden war, umgeben von einer diagnostischen Station an der
Stirnseite und jeweils einer Monitor- und Medikamentenstation an den
Längsseiten. Das Quarantänezelt war eine besondere Konstruktion.
Während auf Planeten mit einer Standardatmosphäre mit Unterdruckkammern
gearbeitet wurde, erforderte ein Planet wie Krocker IV, der keine nennenswerte
Atmosphäre aufwies, andere Maßnahmen. So war das Quarantänezelt
doppelwandig; zwischen der Außen- und der Innenwand befand sich
ein Giftgasgemisch, das für die bekannten Viren, Bakterien und
ähnlichen Parasiten tödlich war.
Dr. Lasse Malmström stand mit Lieutenant Passa Bell und dem Leiter
des Explorationteams, Dr. Bernard Kellermann, an der Stirnseite des
Untersuchungstisches. Kellermann war ein untersetzter Mann, dessen Körpergröße
die von Dr. Malmström um etwa zwei Köpfe unterschritt, sich
mit Mitte fünfzig jedoch im selben Alter wie der Arzt befand. Linda
Paretsky, eine weitere Wissenschaftlerin des Explorationteams, die auch
die Aufgaben einer Sanitäterin wahrnahm, hielt sich im Hintergrund.
Bell war aufgefallen, daß Paretskys langes blondes Haar von einem
Netz zusammengehalten wurde. Sie fühlte sich befriedigt, weil sie
nicht die einzige Frau war, die bei Außeneinsätzen ihr Haar
bändigen mußte.
Sowohl die Mitglieder des Explorationteams auch die der PHÖNIX
trugen Raumanzüge. Gleichwohl war in dem Quarantänezelt eine
Standard-Sauerstoffatmosphäre aufgebaut worden. Malmström
hatte Templeton Ash zum Shuttle zurückgeschickt, nachdem er bei
dem Aufbau des Quarantänezeltes geholfen hatte.
„Zunächst müssen wir ihn aus seinem Raumanzug schneiden,“
sagte Dr. Malmström und deutete auf Pronzini. Dr. Kellermann wandte
ihm abrupt den Kopf zu, doch mit einer bestimmenden Geste schnitt Malmström
dem untersetzten Mann das Wort ab.
„Solange er sich in seinem Raumanzug befindet, kann ich ihm weder
helfen noch den unbekannten Organismus untersuchen,“ fuhr Malmström
freundlich fort. „Nach unserem Kenntnisstand kann die Lebensform
einen unbeschädigten Schutzanzug nicht überwinden, was auch
für das Quarantänezelt gilt. Lieutenant, Mrs. Paretsky, würden
sie mir bitte helfen.“
Dr. Kellermann war kein Risiko eingegangen, als er Pronzini nach dem
Unfall und der Kontamination mit der unbekannten Lebensform in seinem
Raumanzug beließ. Die Schnitte, die der Laserschneider dem Anzug
zugefügt hatte, waren von Sara Evans mit einen speziellen Klebeband,
das zur Standardausrüstung von Raumanzügen gehörte, rasch
abgedichtet worden. Die Schnittverletzungen waren durch den Laserschneider
kauterisiert worden, so daß die Gefahr eines kritischen Blutverlustes
nicht bestand. Da Pronzini bewußtlos war, litt er keine Schmerzen.
Der Leiter des Explorationteams hätte zwar nicht die Kontamination
seiner übrigen Teammitglieder riskiert, da diese ihre Raumanzüge
nicht abgelegt hatten, aber eine Verseuchung der Wohn- und Arbeitscontainer.
Und außerdem war Dr. Malmström klar, daß ein Leiter
eines Explorationteams von NEUE WELTEN eher den Tod eines Teammitglieds
in Kauf nehmen würde als die Chance aufzugeben, eine unbekannte
Lebensform zu untersuchen und, falls möglich, kommerziell zu verwerten.
Dr. Malmström löste die Verschlüsse des Helms von Pronzinis
Raumanzug und deaktivierte durch eine Tastenkombination auf dem Brusttornister
die Automatikfunktionen des Anzuges. Anderenfalls hätte die Anzugsteuerung
auf ihre Aktivitäten mit einer Druckerhöhung reagiert. Dann
zog er den Helm vorsichtig ab und ließ Pronzinis Kopf vorsichtig
auf ein Stützkissen gleiten. Seine Gesichtshaut war blaß
und mit einem Schweißfilm bedeckt. Bell und Paretsky nahmen die
Handschuhe ab.
Der Arzt reichte zwei Laserschneidgeräte an die Frauen weiter.
Es handelte sich natürlich nicht um Bergbaugeräte, sondern
um medizinisches Equipment, bestimmt für Fälle wie diese,
in denen ein zwar widerstandsfähiges, aber nicht sehr massives
Hindernis entfernt werden mußte. Die Laserschneidgeräte bestanden
aus einem Handgriff und einer Projektorfläche, an der sich der
Strahl millimetergenau einstellen ließ.
Dr. Kellermann trat einige Schritte zurück. Die Frauen und der
Arzt arbeiteten schnell, konzentriert und schweigend. Zunächst
trennten sie die Arme des Anzuges in den Schultern ab, danach die Beine
in den Hüften. Sie lösten die Anschlüsse und Befestigungen
des Brusttornisters, bevor sie an beiden Seiten des Körpers einen
durchgehenden Schnitt führten. Sie hoben Pronzini vorsichtig an
und entfernten die Überreste des Raumanzugs. Paretsky nahm die
Einzelteile auf und legte sie der rechten äußeren Ecke des
Quarantänezeltes ab.
Dr. Malmström aktivierte die Untersuchungsstation. Kellermann trat
zu ihm und blickte ebenfalls auf die Anzeigen.
„Die Vitalfunktionen sind chaotisch,“ sagte der Arzt nach
einem Moment. „Der Blutdruck ist dermaßen erhöht, daß,
natürlich abhängig von der physischen Konstitution, die Gefahr
eines Herzversagens besteht, wenn der Patient weiter dieser Belastung
ausgesetzt wird. Die Pulsfrequenz ist auch extrem hoch. Das Elektroenzephalogramm
weist auf Gehirnaktiviäten hin, die für die Tiefschlafphase
typisch sind, in ihren Ausprägungen aber deutlich über die
normalen Parameter hinausgehen.“
„Welche Daten werden über den unbekannten Organismus angezeigt?“
warf Dr. Kellermann mit seiner dunklen Stimme ein.
Dr. Malmström berührte einige Tastenfelder auf der Untersuchungsstation.
„Der Organismus befindet sich im Blutkreislauf, was zu erwarten
war,“ antwortete er und beugte sich über die Anzeigen. „Das
ist interessant: Der Organismus hat eine kristalline Form, seine Masse
ist dagegen nicht bestimmbar.“
„Die weitere Untersuchung der Lebensform werde ich erst vornehmen
können, wenn wir ihn aus Pronzinis Körper entfernen konnten,“
nahm Lieutenant Bell die Antwort auf die nächste, vorhersehbare
Frage Kellermanns vorweg.
Kellermanns wandte sich der Wissenschaftsoffizierin der PHÖNIX
zu. Bell sah, wie er die Stirn runzelte. „Und?“ sagte Kellermann
spöttisch. „Haben Sie vielleicht bereits eine Idee, wie sie
das bewerkstelligen wollen?“
„Wir wissen, daß der Organismus auf Wärme reagiert,“
antwortete Bell ruhig. „Sara Evans hat davon berichtet, daß
sich die Lebensform zunächst um den Laserschneider herum bewegte.
In Pronzini drang sie erst ein, als er seinen Raumanzug beschädigte
und sich verletzte. Ich halte es für möglich, daß es
das zweite Ereignis war, daß die Organismen auf Pronzini aufmerksam
machten. Die Betriebstemperatur eines Raumanzuges liegt immerhin deutlich
unter dem eines Laserschneiders.“
Dr. Malmström tippte dem Leiter des Explorationteams auf die Schulter.
Kellermann mußte seinen Kopf etwas in den Nacken legen, um dem
Arzt in das Gesicht sehen zu können. „Die physiologischen
Daten Ihres Mitarbeiters ähneln frappierend denen eines Menschen,
der unter dem Einfluß halluzinogener Drogen steht,“ führte
Malmström aus. „Wie Psilocybin oder Ololiuqui, die im Outback
stark verbreitet sind.“
„Das ist bemerkenswert,“ erwiderte Dr. Kellermann, zog ein
Pad aus der Seitentasche seines Raumanzuges hervor, aktivierte es und
gab einige Daten ein, die er zuvor von den Anzeigen der Untersuchungsstation
ablas.
„In Fällen dieser Art besteht die Standardtherapie darin,
die Eigenschaften des menschlichen Metabolismus, auf die eine fremde
Lebensform in parasitärer Weise reagiert, zu bestimmen und auszuschalten.
Zumindest einen solchen Kontaktpunkt haben wir gefunden,“ fuhr
Dr. Malmström fort und nickte der Wissenschaftsoffizierin der PHÖNIX
zu. „Wir sollten davon ausgehen, daß es nicht die Verletzung,
sondern der Schmerz war, der den fremden Organismus auf Pronzini reagieren
ließ. Ich werde ihm ein starkes Sedativum injizieren, das sein
natürliches Schmerzempfinden vollständig ausschalten sollte.“
„Können Sie voraussehen, wie die Lebensform darauf reagieren
wird?“ fragte Kellermann, ohne seinen Blick von den Anzeigen der
diagnostischen Station zu heben.
„Natürlich nicht,“ erwiderte Ärztin. „Es
ist ein Versuch, der erste außerdem. Es ist wenig wahrscheinlich,
wenn auch nicht ausgeschlossen, daß wir damit sofort Erfolg haben.
Aber wir sollten Vorbereitungen treffen, falls der Organismus Pronzinis
Körper tatsächlich verlassen sollte. Seine Affinität
zu Wärmequellen könnte dabei hilfreich sein. Lieutenant Bell,
bereiten Sie einen Probenbehälter mit einem automatischen, fernsteuerbaren
Verschluß vor. Ein Behälter mit einer Höhe von einem
Meter sollte genügen. Auf dem Boden plazieren sie ein Wärmekissen,
das sie auf eine Temperatur von knapp einhundert Grad Celsius einstellen.“
Die Wissenschaftsoffizierin entnahm einem hüfthohen Container an
der Seitenwand des Quarantänezeltes die angeforderten Gegenstände,
setzte sie zusammen und stellte sie auf dem schmalen Tisch an der Stirnseite
ab. Es war ein durchsichtiger, zylindrischer Behälter. Die Bereitschaftsanzeige
des automatischen Verschlusses zeigte grün.
Gleichzeitig trat Dr. Malmström an die Medikamentenstation und
programmierte einen Injektor. Das Zischen, das über die Außenmikrofone
ihres Raumanzuges übertragen wurde, und das Aufleuchten einer grünen
Diode über der Ladestation zeigten an, daß der Injektor betriebsbereit
war. Dr. Malmström nahm das Gerät in die rechte Hand, kehrte
an die Stirnseite des Untersuchungstisches zurück und fragte: „Fertig?“
Lieutenant Bell war mit der Fernbedienung ebenfalls an den Untersuchungstisch
zurückgekehrt. Das kleine, schmale Gerät verschwand fast vollständig
zwischen den Fingern ihres Raumanzuges. „Ja,“ sagte die
Wissenschaftsoffizierin. Dr. Kellermann und Linda Paretsky wichen rasch
an die Zeltwänden.
Dr. Malmström injizierte das Medikament in die Halsschlagader Pronzinis.
Es war ein starkes und schnell wirkenden Sedativum, das vor allem bei
Patienten mit schweren Verletzungen angewandt wurde, aber ihr Bewußtsein
nicht ausschaltete, sondern nur wenig trübte. In den ersten Sekunden
nach der Injektion blieben die Vitalfunktionen auf den holografischen
Anzeigen der diagnostischen Station unverändert. Unvermittelt begannen
jedoch der Blutdruck und die Pulsfrequenz Pronzinis zu sinken, auch
seine Augenbewegungen verlangsamten sich.
Im nachhinein wußten weder Dr. Kellermann noch die Frauen der
Dr. Malmström zu beschreiben, wie sich jener Prozeß abgespielt
hatte: Über der Beinverletzung Pronzinis erschien eine dichte Wolke
aus kleinen, leuchtend weißen Punkten mit einer goldfarbenen Koronen,
die einander so heftig umkreisten, daß einzelne nicht zu verfolgen
waren. Dr. Malmström besaß genügend Geistesgegenwart,
den Blendschutz des Helms über die Sichtscheibe zu schieben. Die
Wolke aus Sterne erhob sich und wandelte ihre Form zu einer an den Enden
abgerundeten Säule, von der sich Ausläufer bildeten, die durch
die Luft peitschten.
Dann schoß die Wolke auf Dr. Malmström zu, teilte sich vor
ihm, umfloß ihn und vereinte sich hinter ihm. Der Arzt wirbelte
herum. Die Sterne strömten in den Probenbehälter, drängten
seinem Boden entgegen und füllten ihn schließlich aus. „Jetzt,“
sagte Dr. Malmström.
Lieutenant Bell betätigte die Fernbedienung. Mit einem schnappenden
Geräusch fuhr der Verschluß des Probenbehälters zu.
Dr. Malmström wandte sich wieder der diagnostischen Station zu.
„Es werden keine Fremdkörper im Blutkreislauf des Patienten
angezeigt,“ sagte er, löste die Verschlüsse des Helms
seines Raumanzuges und nahm ihn ab. Lieutenant Bell folgte sofort seinem
Beispiel, Dr. Kellermann und Linda Evans erst nach einigen Sekunden
des Zögerns.
Lieutenant Bell zog einen Handscanner aus einer Tasche ihres Raumanzuges
und trat vor den Probenbehälter. Die Lebensformen konzentrierten
sich auf die untere Hälfte des Zylinders, ein Teil von ihnen hatte
sich auf der Heizmatte festgesetzt und schien diese Position nicht mit
ihren nachdrängenden Artgenossen tauschen zu wollen. Die ersten
Anzeigen des Scanners quittierte sie mit einem Hochziehen der Augenbrauen.
„Der Organismus bewegt sich durch selbst erzeugte, jedoch gleichgepolte
Magnetfelder geringer Reichweite fort,“ berichtete sie aufgeregt.
Dr. Kellermann stürmte heran, packte Dr. Malmström am Arm,
riß ihn zur Seite und schob sich mit erhobenen Händen zwischen
Lieutenant Bell und dem Probenbehälter. „Alles weitere ist
die Angelegenheit von NEUE WELTEN!“ zischte er. Von der anderen
Seite trat Linda Paretsky heran und blieb im Rücken der Wissenschaftsoffizierin
der PHÖNIX stehen.
Lieutenant Bell deaktivierte den Handscanner und steckte das Gerät
in ihren Raumanzug zurück. Den Helm, den sie am Anzug festgemacht
hatte, setzte sie wieder auf, verriegelte ihn und ging rückwärts
bis an die Wand des Quarantänezeltes zurück, dabei Paretsky
zum Ausweichen zwingend. Sie aktivierte den anzugsinternen Kommunikator
und rief die PHÖNIX. Commander Hellerman meldete sich fort. Die
Wissenschaftlerin berichtete nur kurz.
„Das haben wir erwartet,“ erwiderte Hellerman. „Dr.
Malmström soll den Patienten versorgen, wenn Kellermann keine Einwände
hat. Danach ziehen Sie sich in das Shuttle zurück, starten aber
noch nicht. Ich werde mit Milton Losian und Sally McLennane Kontakt
aufnehmen. Wenn wir Gewalt anwenden sollen, um in den Besitz des Organismus‘
zu gelangen, will ich dafür ausdrücklich vom Raumcorps autorisiert
werden. Sammeln Sie in jedem Fall Gesteinsproben, vielleicht finden
wir weitere Einschlüsse, vorausgesetzt, es handelt sich um eine
endemische Lebensform. Ich schalte jetzt ab.“
Die Wissenschaftsoffizierin nahm den Helm ihres Raumanzuges wieder ab.
„Wir ziehen uns zurück, sobald Pronzini versorgt wurde,“
sagte sie, die Anweisung ihres Captains bewußt leicht verfälscht
wiedergebend. Immerhin kannte sie Dr. Malmström inzwischen gut
genug, um sie zu wissen, daß er seinen Patienten nicht im Stich
lassen würde. „Wir werden Krocker IV aber vorläufig
nicht verlassen.“
Dr. Kellermann zuckte mit den Schultern. „Das werde ich kaum verhindern
können,“ erwiderte er gleichgültig. „Es spielt
aber keine Rolle. Die VALLEY FORGE wird bald eintreffen.“
„Wo... was...“ erklang eine leise, schläfrige Stimme
hinter ihnen. Sie fuhren herum. Pronzini hatte das Bewußtsein
wiedererlangt und die Augen geöffnet.
„Etwa zwei Stunden müssen sie hier noch ausharren,“
sagte Dr. Malmström, „bis wir ihre Verletzung versorgt haben.“
Pronzini antwortete nicht, nickte jedoch. Lieutenant Bell glaubte aber
nicht, daß er den Arzt verstanden hatte. „Danach können
Sie sich ausschlafen, in ihrem eigenen Quartier natürlich.“
Dr. Malmström tätschelte den Oberschenkel des unverletzten
Beines.
*
Pronzini
fühlte Erleichterung. Erleichterung darüber, daß die
Schleuse zwischen den Containern des Explorationteams und des Quarantänezeltes
nicht verschlossen war. Er war verschwitzt, seine Aktivitäten der
letzten halben Stunde hatten ihn einen Großteil seiner verbliebenen
physischen Kraft gekostet: einen Ersatzraumanzug aus der Befestigung
im Materialdepot lösen, ihn anlegen und den Laserschneider zur
Hand nehmen – denselben, mit dem er sich die Beinverletzung zugefügt
hatte.
Er verschloß die Tür des Containers, durchquerte den kurzen
Korridor, die Schleuse und betrat das Quarantänezelt. Seinen letzten
Erinnerungen nach hatten die Besatzungsmitglieder der PHÖNIX das
Zelt nach dem Ende seiner Behandlung verlassen. Danach hatte Sara Evans
das Quarantänezelt betreten und ihn gemeinsam mit Linda Paretsky
in sein Quartier gebracht. Da sie erschöpft waren, wollten sie
sich anschließend ebenfalls in ihre Quartiere zurückziehen.
Dr. Kellermann war im Quarantänezelt zurückgeblieben.
Pronzini hatte nicht einschlafen können und auch nicht einschlafen
wollen. In knapp drei Stunden reifte der Entschluß.
Jeder Schritt hatte einen stechenden Schmerz in seinem rechten Bein
zur Folge. Seine Verletzungen hatten auf die Standard-Regenerationsverfahren
gut angesprochen, die zerstörten Knochen, die durchtrennten Sehnen,
Muskeln und Nerven, die verbrannte Haut waren wiederhergestellt worden.
Pronzini wußte natürlich, daß er das Bein noch wenigstens
einige Tage schonen mußte. Unter normalen Umständen jedenfalls.
Dr. Kellermann war auf einem Hocker vor dem schmalen Tisch an der Stirnseite
des Zeltes zusammengesunken, direkt vor dem Probenbehälter, in
dem sich die Lebensformen weiterhin scheinbar unkontrolliert bewegten.
Sie nutzten nunmehr auch die obere Hälfte des Probenbehälters
aus, und ihr Leuchten schien intensiver geworden zu sein. Pronzini war
aber nicht geblendet.
Pronzini bewegte sich auf Kellermann zu. Der untersetzte Mann wachte
auf, schrak zusammen, sprang auf und öffnete den Mund, um Pronzini
anzuschreien. Pronzini richtete den Laserschneider auf Kellermanns Brust
und drückte auf die Auslösetaste. Kellermann brach zusammen
und riß im Fallen den Hocker um.
Pronzini schaltete den Laserschneider ab, hielt ihn gegen die Stirnseite
des Quarantänezeltes und löste erneut aus. Der Strahl brannte
ein zentimetergroßes Loch durch beide Wandungen des Zeltes. Die
Atmosphäre des Zeltes und das Giftgas zwischen den Wandungen entwichen
zischend. Pronzini brannte weitere Löcher in die Wand des Quarantänezeltes.
Er wartete mehrere Minuten ab, bis sich der Innendruck nach seiner Einschätzung
dem des Planeten angepaßt hatte, aktivierte nochmals den Laserschneider
und schnitt eine mannshohe Öffnung in die linke Seitenwand.
Pronzini warf den Laserschneider beiseite, riß den Probenbehälter
vom Tisch und hechtete durch die selbstgeschaffene Öffnung nach
draußen. Die Sonne war untergegangen, die zwei kleinen Monde spendeten
ein diffuses Licht.
Auf dem lockeren Geröllboden fand der verletzte Fuß Pronzinis
keinen Halt. Pronzini fiel auf die Knie, ließ den Probenbehälter
fallen und stützte sich mit den Händen ab. Der Aufprall des
Probenbehälters wirbelte eine dünne Wolke roten Staubes auf,
die Bewegungen der Organismen in einem Innern wurden hektisch. Pronzini
atmete schwer. Er ergriff den Probenbehälter und richtete sich
auf. Nein, er würde die Geister, die ihm die glücklichsten
Stunden seines Lebens beschert hatten, nicht an NEUE WELTEN ausliefern!
Pronzini wandte sich nach rechts und stolperte vorwärts. Nur wenige
Meter vor ihm waren neben den Containeraußenwänden die vier
Rover des Explorationteams geparkt. Es handelte es sich Metallkonstruktionen,
die aus zwei Sitzen, einer Ladefläche, dem Antrieb und vier großen,
ballonartigen Reifen bestanden. Die Schmerzen in seinem rechten Bein
hatten sich verstärkt, hielten an und schienen Pronzini das Bewußtsein
rauben zu wollen. Er erreichte das äußere Fahrzeug, warf
den Probenbehälter auf den Beifahrersitz und hiefte sich selbst
vor die Steuerkonsole.
Pronzini startete den Rover, beschleunigte, bremste jedoch sofort wieder
ab. Der Probenbehälter wurde bis zur Außenkante des Sitzes
geschleudert und rollte zurück. Pronzini fluchte und verknotete
den Behälter mit den Sicherheitsgurten des Sitzes. Er löste
die Bremse und beschleunigte heftig. Die Räder wirbelten Staub
und Geröll auf und schleuderten Gesteinsbrocken weg, die dumpf
auf die zurückbleibenden Rover prallten.
Der Rover steuerte einen Zickzackkurs. Jeder Aufprall der großen
Reifen auf ein Hindernis prellte den Steuerknüppel aus Pronzinis
Hand. Sein Ziel war eine kilometerlange, etwa fünfzig Meter tiefe
und doppelt so breite Schlucht, die knapp fünfhundert Meter hinter
den Wohn- und Arbeitscontainers des Explorationsteams verlief. Pronzini
war vernünftig genug, die Geschwindigkeit zu reduzieren, als sich
die Schlucht durch einen breiten, dunklen Streifen im Gelände abzeichnete.
Er brachte den Rover auf Parallelkurs.
Ein Lichtkegel, zehn Meter im Durchmesser, erfaßte den Rover.
Pronzini schloß geblendet die Augen. Er spürte den Sog eines
Raumfahrzeuges, das ihn in geringer Höhe überflog, und der
ihn aus dem Sitz zu ziehen schien – was auf einem Planeten mit
einer Standardatmosphäre auch sicherlich geschehen wäre. Dann
folgte der ohrenbetäubende Lärm der Triebwerke, der über
die Außenmikrofone des Raumanzuges ungefiltert auf Pronzini einprasselte.
Das Shuttle der PHÖNIX! Pronzini verzog das Steuer des Rovers und
entkam dem Lichtkegel. Doch das Fahrzeug katapultierte sich selbst über
die Kante der Schlucht und stürzte hinab.
Der Aufprall schleuderte Pronzini aus dem Fahrzeug heraus und ließ
die Vorderreifen des Rovers zerplatzen. Seltsam unwirklich, seltsam
langsam sah Pronzini, wie der Probenbehälter an ihm vorbeiflog,
auf dem Boden aufprallte und der Verschluß zersprang, bevor er
selbst hart aufschlug. Das letzte, das Pronzini wahrnahm, war ein Knirschen
im Nacken.
Die Organismen verließen den Probenbehälter, bildeten eine
Wolke, die unschlüssig verharrte, bevor sie sich zu Pronzini bewegten
und ihn einige Minuten in schneller Bewegung umkreisten. Dann reduzierten
sie ihre Geschwindigkeit, soweit es ihnen möglich war, erhoben
sich über den leblosen Körper, bewegen sich einige Meter zur
Seite, bildeten mehrere dünne, einige Meter hohe Spiralen, die
um ihre Längsachsen zu rotieren begannen und sich miteinander verwoben.
Sie steigerten ihre Rotationsgeschwindigkeit, bis sie eine leuchtende,
weiße Spirale bildeten, die unvermittelt in den Weltraum hinaufschoß.