Bernd Kellermann öffnete das Fenster, lehnte sich vor und blickte auf die Anhalter Straße hinaus. Es war früher Morgen. Der schwache Ostwind trieb träge dünne Nebelschwaden vorbei. Das Kopfsteinpflaster glänzte matt vor Feuchtigkeit.
Langsam fuhr ein Wagen die Straße entlang. Kellermann beobachtete ihn mit Interesse. Die Anhalter Straße war nicht lang, und so verschwand der Wagen bereits hinter dem Hotel, bevor Kellermann den Typ bestimmen konnte. Es war ein typisches Automobil der Zwanziger Jahre, unverkennbar durch die charakteristische Bauweise, durch die geschwungenen Kotflügel, die sich über den Rädern wölbten, den abgesetzten Motorblock, die breiten Trittbretter und durch die großen, von der Frontseite abstehenden Scheinwerfer.
Das Zimmer Kellermanns lag im zweiten Stock. Vor zwei Tagen hatte er es im Stuttgarter Hof bezogen, nachdem er in den frühen Morgenstunden diese Epoche erreicht hatte. Der zu früher Stunde menschenleere Grunewald war als Ankunftsort ausgewählt worden. Kellermanns Einsatz war bisher ohne Schwierigkeiten verlaufen. Er hatte sich in den vergangenen zwei Tagen darauf beschränkt, festzustellen, ob seine Umgebung den Informationen entsprach, die man ihm gegeben hatte. Er war in den Straßen spazierengegangen, mehr nicht.
Alles schien so, wie er es erwartet hatte.
Kellermann wandte sich von dem Fenster ab, trat an den Kleiderschrank und ließ seinen Blick prüfend über die Anzüge gleiten. Er hatte sich vorgenommen, heute die ersten Eindrücke von dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben an diesem Ort in dieser Epoche zu sammeln, im Laufe des Tages eine Reihe von Museen, Baudenkmälern und Sehenswürdigkeiten zu besuchen, abends sich dem Leben in den Nachtclubs und Kabaretts zu widmen, besonders interessiert an den Musik, den Tänzen, der Mode und vor allem an den Umgangsformen und Verhaltensweisen.
Er nahm einen eleganten grauen Nadelstreifenanzug aus dem Schrank, legte ihn an, schlüpfte in seine Schuhe und trat auf den Flur vor seinem Zimmer hinaus. Kellermann wandte sich nach rechts, ging an weiteren Zimmern vorbei, bis er die Treppe erreichte, die in das Erdgeschoß und zum Frühstücksraum führte. Auf dem Treppenpodest begegnete ihm eines der Zimmermädchen des Stuttgarter Hofes. Sie war Anfang zwanzig, blond, trug einen bodenlangen, tiefblauen Rock und eine weiße Bluse.
Das Mädchen wünschte Kellermann einen guten Morgen. Er erwiderte ihren Gruß - und dann fielen sie.
Bereits nach Sekunden hatten sie wieder festen Boden unter ihren Füßen. Kellermann konnte sein Gleichgewicht wahren, die Frau jedoch ging zu Boden.
Linkerhand erhob sich eine drei Meter hohe Mauer aus grob behauenen Bruchsteinen. Darüber befand sich eine Holzkonstruktion, die einen Meter über die Mauerinnenseite hinausragte und in regelmäßigen Abständen durch Holzpfeiler gestützt wurde. Etwa fünfzig Meter weiter bog die Mauer in einem rechten Winkel ab. Dort erhob sich ein quadratischer, mit Zinen bewehrter Turm, auf dem Kellermann zwei Personen erkennen konnte.
Kellermann half dem Mädchen auf die Füße. Sie schien nicht zu verstehen, was geschehen war. Mit zitternden Händen versuchte sie, ihre verschmutzte Kleidung zu reinigen. Sie standen auf brauner, festgefahrener und festgetretener Erde, nur hier und da lagen halb eingesunken ein paar Steine.
Vor Kellermann und der Frau blieb abrupt ein Mann stehen. Er trug ein dunkles Gewand, das bis zu seinen Kien reichte. Die Füße steckten in groben, ledernen Stiefeln, die Beine waren mit Lumpen umwickelt. Der Mann hielt die Zügel eines Ochsen, der einen zweirädrigen Karren zog. Erschrecken und Furcht zeichnete sich in dem Gesicht des Mannes ab. Er stieß einen kurzen Schrei aus und zerrte an den Zügeln. Das Tier schnaubte und tat widerwillig ein paar Schritte.
Kellermann konnte die Reaktion des Mannes verstehen. Diese Epoche schätzte er als frühes Mittelalter ein, und da konnte es bei dem Mann nur Panik auslösen, als zwei Fremde, an denen nichts Vertrautes war, unvermittelt vor ihm erschienen.
Kellermann preßte sich an die Mauer in seinem Rücken. Er konnte die spitzkantigen Steine deutlich spüren. Die Frau klammerte sich an seinem Arm.
Weitere Bewohner der für Kellermann namenlosen Stadt waren auf sie aufmerksam geworden. Der Mann vor ihnen versuchte, seinen Ochsen zu beruhigen, auf den sich seine Panik offenbar übertragen hatte. Langsam und zögernd traten einige ähnlich schlicht gekleidete Männer hinzu, hinter denen sich Frauen mit verhärmten Gesichtern zusammenfanden. Kellermann war klar, daß er sich am äußeren Rand der Stadt befand, unmittelbar hinter der Befestigungsmauer, doch vermochte er keine Hinweise darauf zu entdecken, wo sich das Stadttor befand.
Aus der Menschenansammlung vor ihnen erklangen artikulierte Schreie. Kellermann muteten die Worte bekannt hat, trotzdem konnte er sie nicht verstehen. Einige der Männer eilten in die umliegenden Häuser und kamen kurz darauf mit unangezündeten Fackeln, Äxten, Mistgabeln und Hellebarden zurück. Kellermann begriff und begann zu laufen.
Der Griff der Frau um seinen Arm löste sich. Sie stolperte, blieb zurück und wurde von den Männern eingeholt, die die Verfolgung aufgenommen hatten. Kellermann rannte weiter.
Der Lärm hinter ihm verstummte - die aggressiven Rufe der Männer mit ihren primitiven Waffen, ihr triumphierendes Geheul, als sie ihr Opfer erreichten, die schrillen Schreie des Mädchens. Kellermann sah im Laufe über seine Schulter. Die Menschen, sowohl die Stadtbewohner als auch das Zimmermädchen aus dem Stuttgarter Hof, waren verschwunden. Kellermann hielt inne und lehnt sich gegen die Stadtmauer, um sich für ein paar Sekunden auszuruhen.
Er verlor das Gleichgewicht, stolperte rückwärts und fiel in grüngelbes, kniehohes Gras. Die Befestigungsmauer existierte nicht mehr, ebenso wie die übrige Stadt. Kellermann erinnerte sich an ein philosophisches Konzept, nach der die Umwelt eines Menschen nur in seinem Geist existiert, nur durch seine Vorstellung real wird und -
Der Boden unter Kellermann gab nach. Er faßte nach hinten und suchte nach seinem festen Halt, doch seine Hände versanken in feinkörnigem Sand, der wie Wasser um seine Gelenke floß. Kellermann sprang auf.
In jede Himmelsrichtung erstreckten sich bis zum Horizont endlose, durch Dünen gewellte Sandflächen. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel. Geblendet wandte sich Kellermann ab. Er zog das Jackett aus und warf es sich über die Schulter.
Kellermann geriet auch in dieser Situation nicht in Panik. Seine harte, gnadenlose Ausbildung, die jede Schwäche aufgedeckt und eliminiert hatte, ließ das nicht zu.
Er stapfte vorwärts, die Düne hinab. Natürlich war es sinnlos, in einer Wüste herumzuirren, von der er nicht einmal wußte, welche es war, doch Kellermann rechnete damit, daß ihm der Zufall einen Ausweg aus seiner Lage weisen würde. Er war bereits zweimal ohne eigenes Zutun und offenbar auch ohne fremden Einfluß in eine andere Zeit und an einen anderen Ort katapultiert worden, warum also nicht auch ein drittes Mal?
Für ein anderes Problem vermochte er aber keinen Lösungsansatz zu finden. Es war unmöglich, so hatte man ihm erklärt, von einer Epoche in die andere zu wechseln, wenn eine der Zeitebenen nicht diejenige war, von der seine Mission ihren Ausgang nehmen würde, weil nur in ihr die erforderlich Technik zur Verfügung stand, in der Zeit also, die die Gegenwart war. Die Zeiten, die sie ansteuerten, waren Vergangenheit, die nur in ihrem subjektiven Erleben zu ihrer Gegenwart werden würden, und nach ihrer Rückkehr wieder zu dem, was sie waren, zur Vergangenheit.
Kellermann ging weiter, stoisch, Schritt für Schritt, die nächste Düne hinauf, wieder hinunter, über eine Ebene. Den Schmerz von seinen Füßen, die von dem feinkörnigen Sand aufgescheuert wurden, ignorierte er.

Seine Schritte wurden ungewöhnlich laut und hallten wider. Erstaunt schaute sich Kellermann um. Er stand inmitten eines Saales, der hundert Meter lang, zwanzig Meter breit und fünf Meter hoch war. Die gewölbte Decke zeigte in ihrer gesamten Ausdehnung farbenprächtige Schlachtengemälde und prunkvoll gekleidete Herrscher und Feldherren der Neuzeit. Die Wände waren verspiegelt und durch ornamentierte Säulen und Wandleisten verziert. Kellermann trat an eines der hoch aufragenden Bogenfenster und sah hinaus. Beiderseits erhoben sich mehrstöckige, langgestreckte Gebäude im imposanten und prunkvollen Stil des Barocks, die mit einer Mauer, die die Gebäudekomplexe an ihrem Ende miteinander verbanden, eine mit Wegen und Zierteichen durchzogene Rasenfläche einschlossen. Davor befand sich eine noch größere Grünfläche, die ebenfalls von Gebäuden und Mauern eingefaßt wurde. Linkerhand, über den Dächern der Flügelbauwerke, ragte die kunstvolle Spitze einer Kirche empor.
Lange schaute Kellermann hinaus. Mit Besorgnis registrierte er, daß das Versailler Schloß menschenleer war.
Kellermann wandte sich ab, ging den Saal hinab, betrat einen Salon, der mit sorgfältig gearbeiteten, mit Verschnörkelungen reich versehenen Mobiliar bestückt war, durchquerte den Raum, ebenso zwei weitere Zimmer, bis er ein Schlafgemach betrat, das genauso prunkvoll und verschwenderisch eingerichtet war wie die Räume zuvor. In der Mitte des Zimmers stand ein großzügig bemessenes Himmelbett, an den Pfosten rote Samtvorhänge hinabwallten.
Kellermann ging darauf zu, ergriff den Stoff und rieb ihn zwischen den Fingern.
"Hallo, Herr Kollege" sagte eine Stimme. Kellermann wirbelte herum.
In der Tür stand eine Frau. Sie trug ein dunkelrotes, mit Stickereien verziertes, ab der Hüfte weit ausladendes Kleid mit einem tiefen Ausschnitt. Ihr dichtes, schwarzes Haar fiel bis auf bis auf zwei sorgsam geflochtene Zöpfe zu beiden Seiten des Kopfes ihren Nacken hinab. Kellermann erkannte sie; es war Sylvia Schröder.
Sie glitt in ihrem prachtvollen Kleid in den Raum und setzte sich auf das Bett. Kellermann drehte sich um und lehnte sich an den Bettpfosten. Sylvia lächelte spöttisch, so wie er es von ihrer gemeinsamen Ausbildung her kannte. Sie hatte ein Gefühl der Überlegenheit aus ihrem Einsatzort und ihrer Einsatzzeit gezogen, am Hofe und zur Zeit des französischen Königs Ludwig des XIV, während Kellermann das Studium Berlins der Zwanziger Jahre zugefallen war, weitab von wichtigen politischen Persönlichkeiten und relevanten historischen Entscheidungen.
Kellermann verspürte in Sylvias Gegenwart erneut Unbehagen.
"Wann haben sie uns auf den Weg gebracht? Vor zwei Tagen erst?" stellte Sylvia zwei rhetorische Fragen. "Erfreulich, daß wir uns hier und jetzt gefunden haben. Es wird unsere letzte Begegnung sein."
"Das Unternehmen ist offenbar gescheitert," meinte Kellermann vorsichtig. "Ich vermute, daß die Transfertechnik doch noch nicht ausgereift war. Oder in ihrer Anwendung ist ein Fehler unterlaufen."
Sylvia lachte schrill. "Natürlich ist es gescheitert," stellte sie fest. "Einige haben es vorausgesehen, aber man wollte es ihnen nicht glauben. Die Vergangenheit sei unabänderlich, weil schon geschehen, so argumentierten unsere Vorgesetzten, während ihre Widersacher der Ansicht waren, daß der bereits der bloße Aufenthalt eines Menschen in einer Zeit, die nicht die seine ist, für Veränderungen in der Zukunft sorgt, von seinen Handlungen völlig zu schweigen. Er ändert nicht nur die Zeit, aus der er kommt, sondern den gesamten geschichtlichen Ablauf zwischen ihr und seiner Einsatzepoche."
Kellermann begriff. Seine Kolleginnen und Kollegen waren buchstäblich über die gesamte Menschheitsgeschichte verstreut worden. Sie gefährdeten nicht nur nicht den Ablauf der dokumentierten historischen Prozesse, sondern beeinflußten das Leben jedes Menschen in ihrer Einsatzepochen. Damit zerstörten sie in letzter Konsequenz die Ahnenlinien der Menschen, die bisher auf der Erde gelebt hatten. Sie hatten ein Chaos angerichtet und die Menschheit ausgelöscht. Kellermann hatte diesen Effekt miterlebt: Die mittelalterliche Stadt war noch bevölkert gewesen, das Versailler Schloß dagegen menschenleer.
Zu einem Zeitpunkt, zu dem es ohne Bedeutung war, mußte Kellermann wieder einmal Sylvias Überlegenheit anerkennen. Sylvia lächelte - und verschwand, unmittelbar darauf auch das Bett, an das sich Kellermann lehnte, das Schlafzimmer, das Schloß. Kellermann bemühte sich, sein Gleichgewicht zu wahren.
Schmerz durchfuhr seinen linken Arm, als er auf den Boden prallte. Kellermann erblickte dunkelgrauen Asphalt, der sich in das Endlos zu erstrecken schien. Nur noch an wenigen Stellen hielten sich schmutzigweiße, größtenteils abgeblätterte Farbbahnmarkierungen.
Kellermann richtete sich auf. In sanftem Wind wogten zu beiden Seiten der Fahrbahn in vollem, sattem grün stehende Eichen und Birken, Sträucher und Farne, die die Leitplanken überwunden, den Asphalt an den Rändern der Straße gesprengt und begonnen hatten, sich auf die Fahrbahn hinaus auszubreiten. Kellermann erinnerte sich daran, daß Europa vor dem Beginn menschlicher Besiedlung ein einziger, riesiger Urwald gewesen sein sollte.
Stöhnend erhob er sich, preßte die Hand auf seinen gelähmten, schmerzenden Arm und taumelte auf die Leitplanke zu.
Kellermann erreichte sie nicht.